In der Wochenzeitung „Publik“ berichtete der Auslandskorrespondent Helmut Herles 1971 aus Rom: „Wenn Don Pasquale Macchi, Geheimsekretär des Papstes, einmal Zeit hat, schließt er die Tür zum vatikanischen Palazzo San Carlo auf und verschwindet rechter Hand in der Loge des Portiers. Dort ist kein argusäugiger Wächter mehr anzutreffen, sondern alle paar Monate Ernst Günter Hansing. Er hat in dem schmalen und hohen Raum eine Staffelei aufgebaut. An den Wänden rasche Kugelschreiberskizzen und Federzeichnungen, drei schon goldgerahmte Bilder, ein Foto, auf dem die Kamera den Vertikalen von Berninis Baldachin hinauf in die Kuppel Michelangelos nachgeeilt ist: Hansings provisorisches Atelier im Palazzo San Carlo, unweit der vatikanischen Gärten. Hansing malt den Papst, als erster Künstler kann er ihn aus der Nähe beobachten...Ohne das Verständnis Don Macchis könnte Hansing wahrscheinlich nicht an den Papstbildern im Palazzo San Carlo arbeiten (Abb. 1, 2). Wer könnte bei dem Kunstsinn, wie Don Macchi ihn besitzt, die Arbeit Hansings besser fördern, und wer könnte besser zwischen dem Maler und seinem ‚Modell‘ vermitteln als der Sekretär, der schon seit 16 Jahren mit dem Papst zusammenlebt und das Vertrauen des Papstes genießt...“1
Ernst Günter Hansing (1929-2011) hatte 1964 den Kölner Erzbischof Josef Kardinal Frings gemalt. Als eine Geste des Dankes wurde dem Künstler 1965 der Vorschlag zuteil, nach Rom zu kommen, den Kardinal dort aufzusuchen und die Atmosphäre der Endphase des Zweiten Vatikanischen Konzils zu verinnerlichen.2 Der Kardinal fragte den Künstler, ob er schon den Papst gesehen habe. Hansing, von Hause aus Protestant, verneinte. Schon bald konnte er den Pontifex bei einer Audienz von günstiger Stelle aus beobachten und einen ersten Eindruck für ein mögliches Bildnis gewinnen. Hansing in einem Gespräch: „Ich erlebte den Papst zum ersten Mal unter der Kuppel im Petersdom. Der Anblick war für mich ähnlich erschütternd wie zuvor der Anblick von Kardinal Frings, den ich ja als schmale, rote Kerze im grauen Kölner Dom wahrnahm. Hier kam nun der in tiefer Demut versunkene Papst Paul VI. in den Raum, ohne das Gepränge, das man der katholischen Kirche immer zuschreibt. Er schien ein äußerst disziplinierter, stark introvertierter, ein geradezu bittender Mensch zu sein. Ich hatte mir damals unter einem Papst einen Regenten vorgestellt. Doch was sich mir offenbarte, war alles andere als ein Regent: Es war eine von Demut erfüllte Persönlichkeit, oder besser ‚die personifizierte Demut‘. Ich habe den in sich versunkenen betenden Papst eher als Silhouette wahrgenommen. Das sollte später auch das Hauptthema des Bildes ‚Papsttum‘ werden. Sie müssen sich vorstellen: Die überdimensional großen Säulen des Baldachins im Petersdom, und dann das schräg einfallende Licht durch die Fenster, die den Raum wie ein Glasprisma durchschnitten (Abb. 3). Das hat sich mir eingeprägt.“3
Der Anblick des Papstes als demütige Menschengestalt unter der Gewalt von Baldachin und Kuppel (Abb. 3, 4) blieb lebendig als Bildidee; sie wurde jedoch - dank glücklicher Fügung4 - erst 1969/1971 im Atelier von San Carlo verwirklicht.
Hansing gewann die Einsicht, der herkömmliche Typus eines Porträts würde nicht genügen, der Persönlichkeit Pauls VI. im Bilde gerecht zu werden. Der Künstler schrieb: „Wie kann ich diesen Papst, der sich fast zu überfordern scheint, anders darstellen als einen bittenden, armen Menschen, inmitten all der berechtigten und unberechtigten Spannungen, denen er ausgesetzt ist. Vielleicht wird deshalb mein Hauptbild mehr eine Spiegelung der Situation des Papstes und der Kirche.“5 Diese Erkenntnis bekräftigte der Kölner Erzbischof Joseph Kardinal Höffner in einem Brief an Hansing: „Bei Papst Paul VI. stehen Sie wohl vor der Aufgabe, im Papst die Last sichtbar werden zu lassen, die eine in Bewegung geratene Kirche ihm auferlegt.“6
Hansings „Papsttum“ existiert in zwei Fassungen (Abb. 8, 12). Schauplatz ist jedes Mal abstrahiert der von Gianlorenzo Bernini in Zusammenwirken mit Francesco Borromini gestaltete, zwischen 1624 und 1633 entstandene Baldachin des Papstaltars über dem Grab des heiligen Petrus in der Vierung der Peterskirche unter der mächtigen Kuppel. Als Vorbild diente die eingangs erwähnte Fotografie, auf der in perspektivisch sich verjüngendem Verlauf die Vertikalen des Altarbaldachins aus bronzenen Palast hohen Schraubensäulen der Kuppel Michelangelos entgegen streben7 (Abb. 3). Durch die Fenster im Tambour der Kuppel zielen Sonnenstrahlen schräg in den Kuppelraum hinein, für Hansing ein überwältigendes Phänomen, das künstlerisch fruchtbar werden sollte.
Für die Gestaltung seiner - wie Hansing sie nannte - ‚Papstsilhouette‘ als Ausdrucksträger tiefster Demut fand Hansing eine Bildvorgabe von 1964, aufgenommen während der Pilgerfahrt Papst Pauls VI. ins Heilige Land (Abb. 5). Die Fotografie hält den Augenblick fest, an dem der Heilige Vater kniend im Abendmahlssaal auf dem Zionsberg zu Jerusalem ins Gebet versunken ist, die Hände fest ineinander verschränkt.8
In einer frühen Phase der Motiventwicklung übernahm Hansing die Konturen des Papstes aus der Bildvorgabe bis in Hüfthöhe. Herausgehoben in farbig detailreicher Abstrahierung ist ein Vertikalzug, der vom Kopf über die verschränkten Hände hinunter führt und, sich kontinuierlich verschmälernd, spitz am unteren Blattrand ausläuft9 (Abb. 6).
Am Ende des Bildfindungsprozesses stand als autonomes Kunstwerk die in mehreren Varianten ausgeführte schlanke Gestalt: Hansings ‚Papstsilhouette‘ (Abb. 7). Alle Farbelement der frühen Motiventwicklung sind in ein kompositorisch klar konstruiertes System abstrakter Formen hineingenommen. Seine ‚Papstsilhouette‘ übertrug Hansing als zentralen Bedeutungsträger ins „Papsttum“.
Das Bild ist auf zwei zusammengefügten Leinwänden gemalt: eine querrechteckige Leinwand unten, eine hochrechteckige darüber (Abb. 8). In steiler Perspektive verjüngen sich unter der Kuppel der Peterskirche - mit schlanken statt der in Wirklichkeit gewundenen Konturen - die Säulen des Altarbaldachins. Entsprechend verkleinert sich optisch das Innere der Vierungskuppel. Zwei Einzüge an den Langseiten des Gemäldes geben ihm die Form eines Petruskreuzes. Die Konturen der abstrahierten Architekturelemente überlagern oder durchdringen sich mit einem Gefüge von Energieträgern: ausfahrende Linienbahnen, dazu Dreiecke, Rhomboide und Zangenformen. Mit ihre scharfen Kanten und Spitzen suggerieren sie Agressivität. Ein Blick auf die Abb. 3 lässt erkennen, dass Hansing seine abstrakten Linienstrukturen eng aus den Wand- und den Gewölbestrutkuren der realen Architektur entwickelt. Auf der erwähnten Fotografie im Atelier - und entsprechend in der Abb. 3 - fällt ein Sonnenstrahl in Richtung Kuppellaterne. Hansing lässt umgekehrt in seiner Komposition den nunmehr abstrahierten Strahl spitz aus der Laterne herauszielen und sich kontinuierlich verbreitern. Das abstrakte und abstrahierende Formengefüge auf hauptsächlich schwarzem gelegentlich ins Blauschwarze spielendem Grund stattet Hansing vornehmlich mit einem vielfach nuancierten Blau aus; es ist der Lieblingsfarbe des Künstlers als Ausdruck von mystischer Tiefe, inspiriert von der überwältigenden Strahlkraft des Blauwunders in den Glasfenstern der Kathedrale von Chartres. Mit Blau kontrastiert Weiß, und Rot verwendet Hansing nach seinen Worten hauptsächlich zur „Durchblutung“.
Die Kuppellaterne ist in der Wirklichkeit mit einem von Giuseppe Cesari entworfenen und von Marcello Provenzale ausgeführten Mosaik Gottvaters ausgestattet, der schwebend im Licht des Himmels und begleitet von Engelsputten seine Rechte zum Segen ausstreckt (Abb. 9). Hansing legt das Laternenauge, den Erscheinungsort des Allmächtigen, als blaue Kreisform an, umgeben von einer Spirale. Aus ihr - aus der Sphäre Gottvaters - löst sich nicht nur der schräge Strahl, sondern zugleich in der Vertikalen ein Lichtbündel, erfasst die Taube des Heiligen Geistes an der Unterseite des Baldachins, geht in das von Kerzen flankierte Altarkreuz über und durchdring die ‚Silhouette‘ Pauls VI. Der Baldachin als pars pro toto für die Kirche „lastet riesig auf einem einsamen Mann, der zu klein zu sein scheint, um ihre ungeheure Geschichte und ihre sich schmerzlich wandelnde Gegenwart zu tragen und zu verantworten und als Papst richtig zu walten“10. Doch der Strahl der Dreifaltigkeit - Georg Daltrop deutet ihn „als Ruf göttlicher Bestimmung“11 - , der auf den Heiligen Vater aus der Höhe niedergeht, wird in seinen betenden Händen zu einer Stütze. Um das Antlitz treffen weitere Strahlen zusammen, schießen auf den Pontifex ein und glühen in Rot, das auch das Kreuz erfasst und sich um Kopf und Hände des Papstes verdichtet (Abb. 10). Hansing: „Ich konnte diesen Papst, der nur retten wollte, der sich überforderte, nur als bittenden Menschen in einem Umfeld ungeheurer Spannungen sehen.“12 Seinem Biografen Luitpol A. Dorn flüsterte Paul VI. einmal zu: „Sie werden mich kreuzigen.“13
Die erste Fassung verblieb im Besitz des Künstlers. Don Pasquale Macchi war von Bildidee und Ausführung angetan. Jedoch erschien ihm das Format des Gemäldes zu klein für seine bedeutungsvolle Aussage; vor allem die ‚Silhouette‘ als Bedeutungsträger kam für ihn nicht markant genug zur Geltung. Einen Monat vor seinem Tod besuchte der weltbekannte damals in Rom beheimatete Dichter Stefan Andres (Abb. 11) - „persona gratissima am Vatikan“14 - Ernst Günter Hansing im Palazzo San Carlo und betrachtete das „Papsttum“. Andres „fand die Idee des Bildes sehr gut“, wenngleich auch er die Darstellung des Pontifex als zu „klein, fast bedrückt“ kritisierte. Der Dichter regte wie Don Macchi an, „Hansing solle ein ganz großes Bildformat nehmen, die Werkstätten des Vatikans, die ‚San Petrini‘ könnten ihm jede Leinwandgröße herstellen.“15
Ernst Günter Hansing ließ sich überzeugen, die Komposition für die Collezione d‘Arte Religiosa Moderna der Vatikanischen Museen in größerem Format zu wiederholen. Für die zweite Fassung fertigte die Schreinerei des Vatikans die entsprechende Bildtafel an. Hansing in einem Brief an seine Frau Eva: „Macchis Interesse wächst von Tag zu Tag. Er sagt, er kenne keinen Maler, der so arbeitet in der Auffassung, wie ich. Das große Bild beschäftigt ihn mehr und mehr. Er besucht mich immer plötzlich und bringt irgend etwas mit. Jetzt wo der Vatikan auch noch die große Bildtafel anfertigt - und wie die springen, wenn Macchi einen kleinen Finger rührt - wachse ich mehr und mehr in die Rolle des anerkannten Papstmalers.“16
Wiederholen bedeutet für Hansing Bewahren und Fortentwickeln. Aus der ersten Fassung behält er - von Modifizierungen abgesehen - das Liniengerüst des Architekturaufbaus und die Anlage der prismaartigen Formen bei (Abb. 12). Den vorherrschend schwarzen Bildgrund der ersten Fassung wandelt der Künstler nun in ‚Hansing-Blau‘ um; damit hebt er den mystischen Charakter der Komposition hervor. Das in der ersten Fassung vorherrschende helle Blau in den abstrakten Binnenformen ist bis auf Weniges reduziert; stattdessen dient wolkenartig verschleiertes gedämpftes oft ins Violette spielendes Blau dazu, die Mehrzahl der Binnenformen auszufüllen. In gleicher Technik sind die Baldachinsäulen plastisch hervorgehoben, an einigen Stellen mit einer Füllung in weiß gehöhtem stumpfem Violett. Anstatt des hellen Blaus der ersten Fassung dominiert Weiß mit sparsam hellblauen malerisch angelegten Einschlüssen als zweite Leitfarbe der gesamten Komposition. Besonders verdichtet tritt Weiß im Bereich der Kuppel und ihres diagonalen Lichtstrahls aus der göttlichen Sphäre hervor. Vom Ende des Lichtstrahls erstreckt sich jetzt durchlaufend die Gegendiagonale nach unten bis zur rechten Bildseite (in der ersten Fassung war die Diagonale häufig unterbrochen) und erfüllt klarer spürbar das ganze Strahlengefüge mit der Kraft, die aus der göttlichen Sphäre hernieder kommt.
Alles, was unterhalb der neu gestalteten Diagonalen liegt, ist farblich zurückgenommen zugunsten des Bedeutungszentrums: des nunmehr vergrößerten und im Ausdruck demutsvolleren Papstantlitzes (Abb. 13). Mit seiner überwiegend in der Leitfarbe Weiß belassenen oberen Kopfpartie sticht es ungleich markanter aus dem Bildgrund hervor als in der ersten Version. Anders als dort zielen direkt von beiden Seiten rote Strahlen auf das Haupt Pauls VI.; sie versuchen es gleichsam zu fesseln. Doch der Dreifaltigkeitsstrahl hält, optisch strengliniger durchgeführt als in der ersten Fassung, beherrschend dagegen.
Für Georg Daltrop offenbarte sich die Seelenkraft des Papstes „in der Leidenschaft durch Leiden und Gottvertrauen zum schöpferischen Überwinder zu werden. ‚Pro hominibus constitutus‘, für den Dienst am Menschen bestellt, steht unten rechts im Bild geschrieben. Die Inschrift kennzeichnet das Thema, die Aufgabe des Dargestellten.“17 Die betend ineinander verkrampften Hände sind in der neuen Bildfassung - feste Bindung verheißend - mit dem roten Farbverlauf umschlungen, der aus dem Himmelsstrahl hernieder kommt. Das Antlitz des bedrängten und leidenden Pontifex gehört dank seiner kostbar neu zeselierten Binnenzeichnung mit abstrakten Formelementen zu den erlesendsten Schöpfungen Hansing‘scher Bildnisgestaltung (Abb. 13).
Am 22. Januar 1972 wurde die zweite Fassung des „Papsttums“ dem Heiligen Vater im kleinen Thronsaal des Apostolischen Palastes in Gegenwart des Künstlers und des Vertreters des anonym gebliebenen Stifters vom Kölner Weihbischof Wilhelm Cleven übergeben (Abb. 14, 15). Er interpretierte: „Einem jeden, der das Bild betrachtet, wird zu Bewusstsein kommen, wie groß und schwer die Bürde ist, die der Herr dem Apostel Petrus auf die Schulter gelegt hat, als er ihm die Herde anvertraut hat: Weide meine Lämmer, weide meine Schafe, aber auch verheißend hinzufügte: Es kommt die Zeit, wo ein Anderer dich gürtet und dich führt, wohin du nicht willst (Joh. 21, 17f.). Darum bringt der Maler ein situatives Bild, das die Situation der Kirche, des Papstes, ja, eigentlich Christi in unserer Zeit darstellt. Es zeigt den Papst unter der Peterskuppel, die ihn mit ihren übergroßen Konstruktionen fast erdrückt. Gewaltige, verwirrende Mächte der Finsternis bedrohen heute die Kirche Christi. Aber der Nachfolger des Apostels stützt sich auf den Petrusstab, der von der Taube in der Höhe durch die ganze Mitte des Bildes hinabreicht bis in die fein gegliederten aber festen Hände des Papstes hinein.“18
Hansing erzählte: „Der Papst, der hier zum ersten Mal ein Porträt von sich zugestanden hatte, bedankte sich mit großer Herzlichkeit.“19 Paul VI. habe, so schilderten andere Augenzeugen, das Werk intensiv betrachtet, auf die eindrucksvolle Farbigkeit gedeutet und geäußert, der Künstler habe darstellen wollen, was er durch Beobachtung seines Sujets erfahren und dann innerlich verarbeitet habe. In der abstrakten Form komme zeichenhaft das Mysterium der Kirche zum Ausdruck. Für viele sei eine Darstellung der Kirche als des geheimnisvollen Leibes Christi in dieser Art eine Revolution. Man dürfe aber an einem solchen Bild nicht schnell vorbeigehen. Nur bei längerer Betrachtung erschließe sich seine Tiefe. Ihn erstaune die Kraft der psychologischen Beobachtung, der der Künstler Gestalt verliehen habe.20
Wenige Tage später lobte der Papst das Werk als ein „sehr wertvolles und bedeutsames Geschenk“ und fügte hinzu, der Künstler habe versucht, seinen eigenen Geist, seine Gedanken und seine Konzeption in der ihm eigenen Sehweise auszudrücken. Dies mache es für den Betrachter nicht leicht, sogleich den Dargestellten zu erkennen. Aber vom Betrachter sei ein „Akt des Nachdenkens“ gefordert; dieser sei „sehr nützlich“.21
Paul VI., der Ernst Günter Hansings Kunst schätzte und förderte, beauftragte ihn, anlässlich des Heiligen Jahres 1975 eine Kassette mit sieben Variationen zentraler Bildthemen Hansings als Siebdrucke anzufertigen.22 Der Papst verfasste eine eigenhändig geschriebene Betrachtung, die den Siebdrucken als Faksimile beigegeben wurde. Die Empfehlung, Hansings Bildsprache in einem „Akt des Nachdenkens“ zu verinnerlichen, weil sich nur bei längerer Betrachtung ihre geistige Dimension erschließe, gilt uneingeschränkt für die Siebdrucke der Anno-Santo-Kassette.
Am Beginn des Zyklus steht auf schwarzem Grund eine auf ihre Linienstruktur reduzierte Darstellung der zweiten Fassung des „Papsttums“ in zwei Blaunuancen mit Weiß-, Violett- und Rotakzenten (Abb. 16). Auf helles Blau wechseln der Strahlennimbus des Heiligen Geistes und der Bereich um das Kreuz. Im Dreifaltigkeitsstrahl leuchtet - sich nach unten verdichtend - Weiß auf und erreicht sein Ziel in der zeichnerisch dicht strukturierten ‚Papstsilhouette‘ in Weiß mit Rotakzenten (Abb. 17).
Allen sieben Siebdrucken sind lateinische Beischriften zur Meditation über das Dargestellte beigegeben. Für die „Papstsilhouette mit Peterskuppel“ - so der vom Künstler festgelegte Titel dieses Siebdrucks - lautet die Beischrift: „Lasset uns den Herrn bitten für die Heilige Kirche Gottes, dass alle ihre Getreuen, vom Heiligen Geist entflammt und gestärkt, Gott standhaft dienen.“
Dieser Gebetstext könnte auch unter den gemalten großen Fassungen des „Papsttums“ stehen.
1 Publik Nr. 1/2, vom 8.1.1971, S. 32; zit. nach Helmut Herles, Mit der Staffelei in den Vatikan - Ernst Günter Hansing porträtiert Papst Paul VI. In: Wilfried Hansmann/Helmut Herles, Ernst Günter Hansing in Selbstzeugnissen. Gedanken - Erinnerungen - Gespräche (hrsg. von Wilfried Hansmann und Helmut Herles im Auftrag des Freundeskreises Ernst Günter Hansing e.V.), Worms 2010, S.61 - Zu Don Pasquale Macchi (1923-2006), dem Privatsekretär Pauls VI. und Sammler moderner Kunst für den Vatikan: Christa Langen-Peduto/Josef Albert Slominski, Im Schatten der Päpste. Der Alltag der Papst-Sekretäre von Pius XII. bis Franziskus. Mit einer Hinführung von Reinhard Kardinal Marx, Leipzig 2016, S. 55.
2 Hans Nitsche, Ernst Günter Hansing und die Kölner Erzbischöfe. Josef Kardinal Frings. In: Wilfried Hansmann/Hans Nitsche, Die Kölner Erzbischöfe Josef Kardinal Frings, Joseph Kardinal Höffner, Joachim Kardinal Meisner in Bildnissen von Ernst Günter Hansing. Mit Texten von Altbischof Hubert Luthe, Weihbischof Manfred Melzer und Dompropst Norbert Feldhoff (hrsg. vom Katholisch-Sozialen Institut der Erzdiözese Köln, Bad Honnef, in Verbindung mit dem Freundeskreis Ernst Günter Hansing e.V.), Worms 2008, S. 13-15.
3 Hans Nitsche, Der Bick ins Innere. Ernst Günter Hansing und die Päpste. In: Wilfried Hansmann/Hans Nitsche, Die Päpste Paul VI. und Johannes Paul II. in Bildnissen von Ernst Günter Hansing. Mit Texten von Joachim Kardinal Meisner und Erzbischof Karl-Josef Rauber (hrsg. vom Freundeskreis Ernst Günter Hansing e.V.), Worms 2006, S 8.
4 Dr. Karl-Josef Kardinal Rauber, Rottenburg am Neckar - in den 1960er Jahren Sekretär des Leiters des Staatssekretariats im Vatikan Erzbischof Giovanni Benelli - berichtete 2014 dem Verfasser dankenswerterweise schriftlich über seine Begegnungen mit Ernst Günter Hansing in Rom: Benelli sei durch ihn (Rauber) „auf das künstlerische Schaffen von Ernst Günter Hansing aufmerksam geworden, dessen starke Aussagekraft er sofort erkannte...Das künstlerische Schaffen Ernst Günter Hansings machte auch auf mich großen Eindruck. Da ich mit der modernen Kunst und vor allem mit der modernen christlichen Kunst nicht sehr vertraut war, bemühte ich mich, die Ideen, die Ernst Günter Hansings künstlerisches Schaffen zugrunde lagen, immer besser zu verstehen. Ich war sehr froh, dass auch der Sekretär Papst Pauls VI. Msgr. Pasquale Macchi die Bedeutung Ernst Günter Hansings in der modernen christlichen Kunst erkannte und schätzte.“ Msgr. Macchi sei sofort bereit gewesen, dem Wunsch Ernst Günter Hansings zu entsprechen, den Papst zu porträtieren. Damit Hansing den Papst kennlernen und diese Kenntnisse vertiefen konnte, habe Msgr. Macchi dafür gesorgt, dass dem Künstler „an verschiedenen Audienzen bevorzugte Plätze reserviert wurden, von denen aus ihm die Studien der Persönlichkeit des Papstes erleichtert wurden. Außerdem wies ihm Msgr. Macchi einen Raum in der Nähe der Palazzina dell‘ Arcipretre im Vatikan als Studio zu. Dort konnte er in Ruhe arbeiten und seine Vorarbeiten und vor allem das Hauptgemälde sicher aufbewahren.“
5 Nitsche, wie Anm. 3, S. 9.
6 Nitsche, wie Anm. 3, S. 9f.
7 Besagte Fotografie, die Hansing an die Atelierwand geheftet hatte, ist unter seinen Arbeitsmaterialien nicht erhalten und nur unscharf im Schwenk einer Schmalfilmaufnahme dokumentiert; ihr entspricht im Wesentlichen die hier - ersatzweise - wiedergegeben Abb. 3 - Das Schmalfilmdokument „Ernst Günter Hansing im Vatikan 1970“ von Ulrich Schmitz ist auf YouTube veröffentlicht unter https://www.youtube.com/watch?v=hmXcC4ISEwE (Stand 2019).
8 Die Fotografie war in mehreren Versionen verbreitet, z. B. in: „Papst Paul VI. im Heiligen Land“. Bildband Nr. 2 aus dem Burda-Verlag. Sonderdruck der BUNTEN Illustrierten, S. 148/149, mit den Worten unter dem Frontispiz-Porträt des Heiligen Vaters: „Tiefbewegten Herzens sind wir von unserer Reise zurückgekehrt und tragen für immer in der Erinnerung die eindrucksvollen und bewegenden Bild der heiligen Stätten, die in beredter Weise vom Leben Christi sprechen, von seinem Leiden und seiner Liebe, Paulus PP. VI“. - Eine Version der Fotografie wurde auch als Postkarte angeboten, die in den Andenkenläden beim Petersplatz zu kaufen war. Hansing dürfte sie dort entdeckt haben.
9 Ernst Günter Hansing widmete das Blatt 1978 Don Pasquale Macchi. - Antonio D‘Amico (Hrsg.), Paolo VI il Papa degli Artisti, Rom 2018, S. 100, Nr. 6.
10 Anton Henze, Ernst Günter Hansing, Recklinghausen 1976, S. 8.
11 Georg Daltrop, Für den Dienst an den Menschen bestellt. Über das moderne Papstbild des deutschen Malers Ernst Günter Hansing. In: L‘Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 4, vom 29.1.1972, S. 11.
12 Mündlich überliefert.
13 Luitpold A. Dorn, Paul VI. Der einsame Reformer, Graz - Wien - Köln 1989, S. 7.
14 Michael Braun, Stefan Andres. Leben und Werk (hrsg. von der Stefan-Andres-Gesellschaft), Bonn 1997, S. 151; zit. nach: Hermann Erschens, Nachdenken über Stefan Andres. Ein Gespräch mit Dr. Wolfgang Schwarz, in: Mitteilungen der Stefan Andres-Gesellschaft 11, 1990, S. 19.
15 Dorothee Andres, „Carpe Diem...“ Mein Leben mit Stefan Andres. Mit einem Vorwort von Christopher Andres und Michael Braun, Bonn 2009, S. 397. - Nach Hansings Terminkalender fand der Besuch von Stefan Andres in San Carlo am Sonntagvormittag des 31.5.1970 statt.
16 Brief von Ernst Günter Hansing an seine Frau Eva, Rom 6.6.1970, unveröffentlicht. Privatbesitz. - Im selben Brief fährt Hansing fort: „Stefan Andres ist plötzlich ein Tag nach unserem Vatikanspaziergang mit Besuch meiner Bilder sehr erkrankt. - Er wird auf eine Bauchoperation vorbereitet. Seine Frau sagte, er möchte mich noch sehen - man kann nicht wissen, ob alles gut geht - er sei so von mir und meiner Arbeit angetan. Ich werde am Montag oder Dienstag ins Krankenhaus fahren. Hoffentlich verliere ich diesen gerade kennengelernten bedeutenden Menschen nicht.“ - Stefan Andres starb am 29.6.1970. Hansing kondolierte seiner Gemahlin Dorothee Andres mit den Worten, er sei dankbar, dass er den Dichter auf Spaziergängen durch die vatikanischen Gärten und durch den Park der Villa Pamphili in Rom begleiten und „noch bereichernd erleben durfte...Ich habe einen väterlichen Ratgeber, der mich und meine Arbeit im Tiefsten auf Anhieb verstanden hat, verloren“: zit. nach Günther Nicolin, Begegnung Stefan Andres - Ernst Günter Hansing. Unveröffentlichtes Manuskript (Ich danke Herrn Günther Nicolin, der mir gestattete, dieses einzusehen). - Das Grab des Ehepaars Andres befindet sich in Rom auf dem Friedhof des Campo Santo Teutonico im Schatten der Peterskirche. Der schlichte Grabstein von der Bildhauerin Erna Elsa Hausmann-Horn zeigt ein Kreuz mit ungewöhnlichen abgeschrägten Balkenenden (Abb. 18); es ist möglicherweise angeregt vom Kreuzstab Pauls VI. in Hansings „Papsttum“.
17 Daltrop, wie Anm. 11.
18 Kirchenzeitung für das Erzbistum Köln, Nr. 5/72, vom 4.2.1972, S. 2.
19 Mündlich überliefert.
20 dpa-Meldung zum 22.1.1972, zit. nach: Kölner Stadtanzeiger, Nr. 19, vom 24.1.1972; ferner: Elmar Bordfeld, Der Papst und sein Bild. In: Weltbild, Heft 5, vom 26.2.1972.
21 KNA, Katholische Korrespondenz, Nr. 5, vom 2.2.1972.
22 Wilfried Hansmann, Das Kreuz als Zentrum der Kräfte und Zeichen der Erlösung im Werk von Ernst Günter Hansing. In: Wilfried Hansmann/Friedhelm Hofmann/Hans Nitsche, Ernst Günter Hansing. Bilder vom Kreuz (hrsg. vom Katholisch-Sozialen Institut der Erzdiözese Köln, Bad Honnef, und vom Freundeskreis Ernst Günter Hansing e.V.), Worms 2013, S. 20-22.
Alamy Stock Photos (Bild-ID: EXAJPX, robertharding): 3
Fotografia Felici, Rom: 1
Getty Images (Bildnummer 141561090, Mondadori Portfolio Premium): 5
Michael Hansing, Hamburg: 16, 17
Wilfried Hansmann, Bonn: 7, 9, 10, 18; Archiv 6, 8
Josef Albert Slominski (SLOMI), Tecklenburger Land: 4
Standbild aus dem Film G 63 „Stefan Andres, Unkel am Rhein 1959“ (IFW Filmdokumentation zur Zeitgeschichte), bereitgestellt durch die Technische Informationsbibliothek (TIB) Hannover: 11
aus Wilfried Hansmann/Helmut Herles, Ernst Günter Hansing in Selbstzeugnissen. Gedanken – Erinnerungen – Gespräche, Worms 2010: 2
aus Wilfried Hansmann/Hans Nitsche, Die Päpste Paul VI. und Johannes Paul II. in Bildnissen von Ernst Günter Hansing, Worms 2006: 12-15
© für die Werke Ernst Günter Hansings: VG Bild-Kunst, Bonn, 2019
Wilfried Hansmann
Abb. 1: Ernst Günter Hansing vor den beiden Fassungen des „Papsttums“ und der „Papstsilhouette“ im Atelier von San Carlo in Rom, August 1970. Die zweite Fassung ist noch unvollendet
Abb. 2: Ernst Günter Hansing bei letzten Arbeiten an der zweiten Fassung des „Papsttums“ im Atelier von San Carlo in Rom, 1971
Abb. 3: Rom, Sankt Peter. Blick auf den Baldachin über dem Papstaltar und in die Kuppel
Abb. 4: Papst Paul VI. und der griechisch-orthodoxe Patriarch Athenagoras vor dem Papstaltar von Sankt Peter in Rom bei einem gemeinsamen ökumenischen Gebet, 1967
Abb. 5: Papst Paul VI. betet im Abendmahlssaal zu Jerusalem, 1967
Abb. 6: Ernst Günter Hansing: Papst Paul VI. betend. Studie zur „Papstsilhouette“, Aquarell auf Papier, 91 x 62,5 cm, signiert und datiert 1969. Nachträglich mit der Widmung versehen: „A Don Pasquale Macchi très cordialement Rom 6. XII. 1978 Ernst Günter Hansing“. Concesio, Collezione Paolo VI
Abb. 7: Ernst Günter Hansing: „Papstsilhouette“. Ausschnitt aus einer Druckgrafik, Blattgröße 67,5 x 47, 5 cm, undatiert. Privatbesitz
Abb. 8: Ernst Günter Hansing: „Papsttum“, erste Fassung, Acryl auf Leinwand auf Holz montiert, 215 x 150 cm, 1970. Privatbesitz
Abb. 9: Rom, Sankt Peter. Gottvater mit Engelsputten, Mosaik von Marcello Provenzale nach dem Entwurf von Giuseppe Cesari in der Laterne der Kuppel
Abb. 10: Ausschnitt aus Abb. 8
Abb. 11: Stefan Andres, Standfoto aus einer IFW Filmdokumentation zur Zeitgeschichte, 1959
Abb. 12: Ernst Günter Hansing: „Papsttum“, zweite Fassung, Acryl auf Holz, 315 x 230 cm, 1970/71. Rom, Vatikanische Museen, Collezione d‘Arte Religiosa Moderna
Abb. 13: Ausschnitt aus Abb. 12
Abb. 14: Übergabe der Papstbildnisse an Papst Paul VI. im kleinen Thronsaal des Apostolischen Palastes in Rom, 1972
Abb. 15: Ernst Günter Hansing erläutert Papst Paul VI. anlässlich der Übergabe der Papstbildnisse (vgl. Abb. 14) seine „Papstsilhouette“. Zur Rechten des Papsts Monsignore Don Pasquale Macchi
Abb. 16: Ernst Günter Hansing: „Papstsilhouette mit Peterskuppel“, Siebdruck aus der „Anno-Santo-Kassette“, 66 x 50 cm, 1975. Privatbesitz
Abb. 17: Ausschnitt aus Abb. 16
Abb. 18: Rom, Campo Santo Teutonico, Grab von Stefan Andres (+1970) und seiner Gemahlin Dorothee Andres (+2002)