Bronzeplastiken der Nuraghen-Zeit

Einführung zur Eröffnung einer Foto-Ausstellung von einer Studienreise des „Fördervereins Akademisches Kunstmuseum Bonn e.V.“ nach Sardinien 2010 im Akademischen Kunstmuseum - Antikensammlung der Universität Bonn am 9. März 2011

Im Archäologischen Nationalmuseum der sardischen Hauptstadt Cagliari steht man gebannt vor der größten Sammlung an Kleinplastiken aus Bronze, die aus der Nuraghen-Zeit auf der Insel gefunden wurden (Abb. 1). Weniger umfangreiche Bestände dieser Art in den Archäologischen Museen von Sassari oder Nuoro erweitern den Blick in die Welt einer Kunst, die der Archäologe Johann Joachim Winckelmann im 18. Jahrhundert als „ganz barbarisch“ beurteilte. Uns, deren Sehgewohnheit an den expressionistischen Formen der Moderne geschult ist, schlagen diese Bronzen in Bann wegen ihrer abstrahierenden Ausdruckskraft bei erstaunlichem Detailreichtum. Zweifellos war dies die Hauptwirkabsicht, als sie etwa seit dem 9. Jh. v. Chr. für ihren besonderen Zweck geschaffen wurden: Sie waren - oft zusammen mit Waffen und Anderem - Votivgaben in Heiligtümern (Abb. 2). Hier wurden sie in der Regel mit flüssigem Blei in Rissen oder in Bohrlöchern von Steinbasen befestigt (Abb. 3).

Sorgfältig aus Wachs modelliert und vollrund in der Technik der „verlorenen Form“ gegossen, bezeugen die Plastiken einen beachtlichen Entwicklungsstand der nuraghischen Bronzekunst. Die Forschung geht nach Legierungs-Analysen von einer eigenständigen Gusstradition in Sardinien aus, die lange stabil blieb, weil man hier wegen des Vorkommens der für den Bronzeguss erforderlichen Metalle Kupfer und Zinn von Einfuhren unabhängig war.

Über Ausdruckskraft und Detailreichtum hinaus sind die Bronzen für die Erforschung der Nuraghen-Zeit ein unschätzbarer Glücksfall: Weil Schriftquellen fehlen, sind sie es, die anschauliche Einblicke in Gesellschaft und Leben der Inselbewohner bieten.

An vorderster Stelle der Bronzestatuetten erscheinen die Stammeshäuptlinge mit ihrem weiten Umhang, in diesem Beispiel (Abb. 4) den Stab als Herrschaftsausweis in der Linken und den Dolch mit geknickter Parierstange auf der Brust. Typisiert ist der Kopf; er begegnet bei vielen Bronzen in dieser charakteristisch-stereometrischen Formgebung.

Ein beträchtlicher Teil der bronzetti stellt Krieger dar - als Votivgaben wohl dazu gedacht, Glück im Kampf zu erflehen. Dieses Vitrinenensemble (Abb. 5) zeigt Bogenschützen unterschiedlicher Größe mit einem Anführer; sein Attribut, eine Feder, hebt die Würde des Anführers hervor. Unter den Kriegern vom Typus mit den beiden Schilden (Abb. 6) ist die bekannteste und geheimnisvollste Statuette der Krieger mit den vier Armen, den vier Augen und dem Helm mit den Stierhörnern, deren Spitzen kugelförmig verziert sind (Abb. 7). Nicht allein der Kopf mit den alles durchdringenden Augen, auch die Beinschienen und die schmuckvolle Riefelung der Schildoberflächen sind sorgfältig ausgebildet. Die Forschung schwankt bezüglich der Deutung dieser Figur zwischen Held und Dämon.

Zur Ikonographie nuraghischer Bronzen gehören Tiere aller Art. Eine der interessantesten neueren Funde ist ein Krieger mit Schild, Stierhornhelm und Speer (Abb. 8). Die Gestalt führt an einem Seil einen Widder - ein totemistisches oder ein Opfertier.

Statuetten als Opfernde finden sich in großer Zahl: so eine männliche Gestalt (Abb. 9), die einen Opferkuchen präsentiert und die Rechte im Gebetsgestus erhebt. Den Opferdienst zu verrichten war bei den Nuraghen - den Bronzen nach zu urteilen - keineswegs ein Privileg der Männer; ebenso oft begegnet man Frauen, die Gaben darbringen (Abb. 10)

Als Opfergaben wurde außer Waffen (Abb. 2) auch Hausrat in Miniaturform gefunden: Hocker, Krüge, Körbe, sogar ein detailliert ausgearbeitetes Schmuckkästchen auf Rädern (Abb. 11) - ein weiterer Hinweis, dass die Nuraghen die Technik des Rades beherrschten.

Im Archäologischen Museum von Nuoro trifft man auf die Nachbildung eines Brunnenheiligtums (Abb. 12). Auf einem Opferstein in der Mitte des Runds liegt neben Gefäßen das Fragment eines phantasievoll gestalteten Votivbronzeboots mit Tierprotome. Solche Boote oder Fragmente von ihnen bewahrt das Archäologische Nationalmuseum von Cagliari in erstaunlicher Zahl (Abb. 13), jedes Stück individuell geformt. Die Forschung möchte in diesen Votivbooten das Interesse der Nuraghen an der Seefahrt erkennen. Zu den zahlreichen Bronzen, die man als Handels- oder Geschenkobjekte nach Etrurien exportierte und die in den dortigen Nekropolen gefunden wurden, gehörten auch solche Bronzeboote.

Bei aller Typisierung der Bronzen, in denen die Forschung auch gestalterische Einflüsse anderer mittelmeerischer Kulturen zu erkennen glaubt, darf man nicht das eigene Ausdrucks- und Formvermögen der nuraghischen Modelleure unterschätzen. Wem es gelingt, den Kampf zweier Gestalten (Abb. 14) in seinem Bewegungsablauf so zu abstrahieren, dass alle Bewegungsenergie gesteigert erlebbar wird, kann kein unbegabter Künstler sein.

Die ergreifende „Mutter des Getöteten“ (Abb. 15) würde man - ohne ihre Herkunft zu kennen - eher als moderne expressive Pietà betrachten als ihre Entstehungszeit etwa im 10.-6. Jh. v. Chr. vermuten. „Kämpferpaar“ und „Mutter des Getöteten“ sind Schöpfungen nuraghischer Bronzekunst, die spontan berühren und nachhaltig in Erinnerung bleiben. Was kann man Rühmenderes von einem Kunstwerk sagen?

Wilfried Hansmann

Abbildungen


1. Bronzeplastiken der Nuraghen-Zeit. Cagliari, Archäologisches Nationalmuseum


2. Stein mit Bronzegegenständen als Votivgaben. Nuoro, Archäologisches Museum


3. Bronzefigur als Votivgabe mit Resten der Bleibefestigung im Stein. Nuoro, Archäologisches Museum


4. Stammeshäuptling, H. 39 cm. Cagliari, Archäologisches Nationalmuseum


5. Bogenschützen. Cagliari, Archäologisches Nationalmuseum


6. Krieger mit zwei Schilden; unten links ein Priester mit zeremonialer Kopfbedeckung (Hut mit hochgezogener Spitze). Cagliari, Archäologisches Nationalmuseum


7. Krieger mit zwei Schilden, vier Armen und vier Augen, gedeutet als Held oder Dämon, H. 19 cm. Cagliari, Archäologisches Nationalmuseum


8. Krieger mit Widder aus dem Nuraghen-Heiligtum von Serra Niedda, Sorso (Sassar). Sassari, Archäologisches Museum „Giovanni Antonio Sanna“


9. Männliche Gestalt mit Opferkuchen, H. 17,3 cm. Sassari, Archäologisches Museum „Giovanni Antonio Sanna“


10 Weibliche Gestalt mit Opfergabe, H. 11,7 cm. Sassari, Archäologisches Museum „Giovanni Antonio Sanna“


11. Schmuckkästchen, L. 14 cm, H. 11,3 cm, B. 6 cm. Cagliari, Archäologisches Nationalmuseum


12. Rekonstruktion des runden Brunnenheiligtums von Sa Sedda ‘e Sos Carros bei Oliena. Nuoro, Archäologisches Museum


13. Votivboote. Cagliari, Archäologisches Nationalmuseum


14. Kämpferpaar, H. 10,5 cm, L. 15 cm. Cagliari, Archäologisches Nationalmuseum


15. „Mutter des Getöteten“, H. 10 cm. Cagliari, Archäologisches Nationalmuseum

Benutzte Literatur

Abbildungsnachweis